Graphologie
Graphologie
Stand: 02.04.2015
Schriftpsychologie
In der Praxis wird der Begriff "Schriftpsychologie" häufig mit dem Begriff "Graphologie" gleichgesetzt. Das hat unter anderen auch Teut Wallner kritisiert: Schriftpsychologie und Graphologie würden heute oft als Synonyme verwendet, obwohl sie sich - was die wissenschaftlichen Anforderungen angeht - deutlich unterschieden: Seit den 60er Jahren werde die Schriftpsychologie in Abgrenzung zur Graphologie als empirisch fundierte und kontrollierte Methode der Handschriftendiagnostik entwickelt.
Angelika Seibt hat 1994 den Begriff "Schriftpsychologie" aus einer Gegenüberstellung graphologischer und graphometrischer Methoden entwickelt und dabei auch den graphometrischen Ansatz kritisiert. Insbesondere die Vorstellung einer voraussetzungslosen Forschung sei in der heutigen Wissenschaft nicht mehr haltbar. Wissenschaft setze Theoriebildung voraus. In diesem Sinne basiere "Schriftpsychologie" auf den traditionellen graphologischen Theorien; zugleich wird die Notwendigkeit empirischer Forschung betont. Graphologische Theorien dienten der Hypothesenbildung für empirische Forschungen. Schriftpsychologie sei eine Erfahrungswissenschaft.
Lothar Michel hat sich 1984 für eine Schriftpsychologie als Grundlagendisziplin ausgesprochen. Auch Michel intendierte eine Schriftpsychologie als Erfahrungswissenschaft. Im Unterschied zu Wallner ging es Michel aber nicht um Handschriftendiagnostik oder persönlichkeitspsychologische Diagnostik, sondern um die Erforschung der Entstehungsbedingungen der Handschrift. Hier wird ein weiterer Aspekt der Unterscheidung von Graphologie und Schriftpsychologie deutlich:
- Graphologische Deutungen oder schriftpsychologische Interpretationen wollen aus dem Ausdruck der Handschrift Aspekte der Persönlichkeit des Schreibers erfassen.
- Schriftpsychologie als Grundlagendisziplin ist demgegenüber umfassender und will auch solche Entstehungsbedingungen der Handschrift erforschen, die nicht unmittelbar etwas mit der Persönlichkeit des Schreibers zu tun haben wie z.B. Schulvorlagen, Erkrankungen, schreibtechnische Aspekte.
Dabei ist zu bedenken, dass man in der traditionellen Graphologie - wie z.B. in Pfannes "Lehrbuch der Graphologie" oder in der "Graphologischen Diagnostik" von Müller und Enskat - immer schon versuchte, solche Aspekte zu berücksichtigen.
Das Ziel der Schriftpsychologie als Grundlagendisziplin ist es, die psychologischen, physiologischen , schreibtechnischen und sozialen Entstehungsbedingungen handschriftlicher Schreibleistungen mit erfahrungswissenschaftlichen Methoden zu erforschen. Die Ergebnisse schriftpsychologischer Forschungen könnten in der Praxis in vielfältigen Bereichen genutzt werden. Dazu gehören allgemeine psychologische Beratung, Beratung zur Persönlichkeitsentwicklung, Partnerschaftsberatung, Erziehungsberatung, Personalberatung, Schreibbewegungstherapie, Schulreife-Diagnostik. Ebenso ist an die traditionellen graphologischen Persönlichkeitsbilder und schriftpsychologischen Analysen zum besseren Verständnis von historischen Persönlichkeiten und geschichtlichen Vorgängen zu denken. Und schließlich können schriftpsychologische Forschungen auch in der forensischen Handschriftenvergleichung genutzt werden.
Methodik
Aus Ganzheitsmerkmalen (z. B. Rhythmus, Einheitlichkeit, Versteifungsgrad der Schrift usw.) und vielen Einzelmerkmalen, wie allgemeine Größe der Buchstaben und deren Größenverhältnisse, Verzierungen, Schriftstärke, Schreibverlauf und Ausrichtung der Buchstaben sowie der Unterschrift kann der Graphologe ein Charakterbild erstellen. Diese Fertigkeit kann erlernt und durch Erfahrung vertieft werden. Einfühlung und psychologisches Verstehen spielen bei der Deutung einer Persönlichkeit über die Handschrift eine Rolle.
Hintergrund der Handschriftendeutung sind aber vor allem die "Eindruckscharaktere". Sie sind es, die den Hauptdeutungsaspekt der Analyse liefern und es ermöglichen sollen, dass in einem späteren Stadium der Deutung, zur Abrundung, auch Einzelmerkmale herangezogen werden können. Diese "Eindruckscharaktere" der Handschrift werden im Gegensatz zu den Einzelmerkmalen als "psychologisch homolog" postuliert. Beispielsweise gibt es keine rechtsschrägen oder unterlängenbetonten, wohl aber unruhige oder verspannte Menschen und Schriften.
Die Graphologie beschäftigt sich nicht damit, den Urheber eines handgeschriebenen Textes oder die Echtheit oder Unechtheit einer Unterschrift festzustellen, wie dies z. B. Gutachter bei einem Testament oder in der Kriminalistik tun. Dies ist Aufgabe der Schriftvergleichung , bei der die Psyche oder der Charakter des Schreibers keine Relevanz besitzen. Dabei werden das juristisch oder kriminalistisch relevante und ein dem vermeintlichen Urheber zugeordnetes Schriftbild auf gemeinsame graphische Merkmale verglichen.