Direkte Erfahrung und die Grenzen der Konzepte

Direkte Erfahrung und die Grenzen der Konzepte

Suche nach Erkenntnis, nicht nach Wahrheit

 Geschichte 1:

Ein König war die Unaufrichtigkeit seiner Untertanen müde und entschied sich dazu, sie zu zwingen, nur noch die Wahrheit zu sagen. Eines morgens wurden die Stadttore geöffnet und es waren Galgen neben ihnen errichtet worden. Der Hauptmann der Stadtwache postierte sich an den Toren und ein Herald verkündete: „Wer die Stadt durch das Tor betreten will, muss zuerst wahrheitsgemäß eine Frage beantworten, welche der Hauptmann der Wache ihm stellen wird.“

Mullah Nasrudin hatte außerhalb der Tore gewartet und trat vor. „Wohin gehst du?“ fragte der Hauptmann, „sage die Wahrheit oder du wirst gehängt werden!“ „Ich komme, um gehängt zu werden“, sagte der Mullah.

„Das glaube ich dir nicht!“ antwortete der Wächter.

Nasrudin antwortete ruhig: „Gut, dann habe ich gelogen. Hänge mich also!“

„Aber dann hättest du ja die Wahrheit gesagt“ sagte der Wächter verwirrt.

„Richtig“, sagte der Mullah, „deine Wahrheit.“

 

„Warum muss ich das erfahren?“

 Da fängt es an, oder? Dieses „das“ kann vieles sein. Krankheit, Verlust von Menschen oder Arbeit, Verwirrung, unbenennbare Ängste usw.

 Du kannst direkt an dieser Stelle wählen.

 Suchst du nach einer Formel, die das alles erklärt? (Das heißt, du suchst „die Wahrheit“)

Oder suchst du nach einem Weg, wie du es direkt erkennen kannst?

 Wähle weise.

 Wenn du nach „der Wahrheit“ suchst, segelst du direkt auf die Straße von Messina zu, wo Scylla und Charybdis bereits auf dich warten.

Verlässt du dich auf Formeln oder auf konzeptbasierte „Wahrheit“, ziehst du dir eine der Krankheiten des Modernismus zu. Diese findet ihren Ausdruck in den zwei großen aktuellen Religionen: Fundamentalismus und Materialismus. Beide versuchen, sich durch Verstand und Logik zu rechtfertigen. Materialisten verwenden den Glauben „nur was ich messen kann, ist real“ um ihre Welt zu definieren. Sie verehren die Wissenschaft, welche „die Wahrheit“ in der Konstruktion von Modellen auf der Basis von dem was messbar ist sieht. Fundamentalisten (religiös, ökonomisch oder politisch) verwenden die überlieferten Worte von Gott, Mohammed, Buddha, Adam Smith, Lenin oder wem auch immer, um ihre Welt zu definieren. Glaube an das überlieferte Wort führe zu „der Wahrheit“, sagen sie, aber meist glauben sie nur an die Passagen, welche ihre Vorurteile bestätigen. Sowohl Materialismus als auch Fundamentalismus sind geschlossene Systeme, die sich ausschließlich auf konzeptuelle Prozesse verlassen, das Blickfeld der Untersuchung und Fragestellung beschränken und andere Perspektiven marginalisieren. Wie die Scylla sind sie vielköpfige Monster, die alles angreifen (innen wie außen) was ihre Zugang zum Leben in Frage stellt.

Gegenüber der Scylla des Modernismus liegt die Charybdis des Postmodernismus, die alles in Frage stellt. Postmodernismus betrachtet alle Sichtweisen als Konstrukte, die durch historische Prozesse entstehen und als solche eine Funktion der macht sind, nicht der Wahrheit.

 Da es keine objektive Wahrheit gibt, sind alle Sichtweisen konstruiert. Konstruierte Sichtweisen verkörpern die Macht und Interessen derer, die sie erschaffen. Deshalb sind sie grundsätzlich unterdrückend. Weil sie unterdrückend sind, müssen sie dekonstruiert werden. Dekonstruktion zeigt, dass alle Sichtweisen relativ sind. Deshalb gibt es keine objektive Wahrheit. Da es keine objektive Wahrheit gibt, sind alle Sichtweisen konstruiert. Konstruierte Sichtweisen verkörpern die Macht und Interessen…

 Dieses zirkuläre Denken führt nirgendwohin und die Menschen werden in einen Strudel aus Nihilismus, Zynismus und Verzweiflung gezogen.

Viele Kulturen und Traditionen finden es schwierig, in diesen Gewässern zu navigieren.

 Wenn wir aber keine „Wahrheit“ annehmen, die unabhängig von der direkten Erfahrung ist? Wir finden Werkzeuge, die ein einfaches Ziel haben (wobei einfach nicht heißt, es sei leicht): direkt zu erfahren, was auftaucht, frei von den Projektionen von Gedanken und Emotionen. Ob wir die Übungen aus der bloßen Aufmerksamkeit (Achtsamkeit) oder dem buddhistischen Mahayana und Vajrayana (Bodhicitta und direktes Gewahrsein – Mahamudra und Dzogchen) verwenden, das Ziel ist das gleiche: direktes Erkennen, das nicht von der Erfahrung getrennt ist.

Die meisten wissen nicht, was sie mit dieser Möglichkeit anfangen sollen. Direktes Erkennen passt nicht in die gewohnten Referenzmuster und wir reagieren mit Furcht und Misstrauen. So suchen wir wieder Referenzpunkte und schaffen Konzepte wie das, dass wir durch diese Übungen „die Wahrheit“ oder ein anderes Ideal erkennen. Die modernistische Konditionierung schlägt wieder zu. „Die Wahrheit“ wird zum Objekt, entweder des Glaubens oder wissenschaftlicher Untersuchung.

Um dieser objektivierenden Tendenz entgegenzuwirken, werden Menschen oft ermutigt, einfach einer Tradition zu glauben, die durch erleuchtete Meister garantiert, dass es gut und richtig ist.

Jetzt tauchen zwei Probleme auf. Erstens transportiert die Heiligkeit der Übermittlung eine versteckte Botschaft: Was einmal entdeckt wurde, kann nicht noch einmal gefunden werden. Zweitens setzt unvermeidlich eine Desillusionierung ein, wenn sich der Lehrer nicht entsprechend der Vorstellung eines erleuchteten Meisters entspricht oder wir als Schüler keine perfekte Hingabe fühlen. Wenn Menschen weder ihrer eigenen Erfahrung vertrauen können noch der Tradition, verfallen sie der Bitterkeit des postmodernen Zynismus und der Verzweiflung.

Doch geht es nicht darum, dass „die Wahrheit“ von einer Generation an die nächste übermittelt wird. Was übermittelt wird, sind die Methoden und Werkzeuge, durch die du die direkte Erkenntnis entdecken und leben kannst.

Dann kannst du erkennen, dass die Dinge weder wahr noch nicht wahr sind, sie sind einfach. Du siehst, dass sich alles immer verändert und die emotionalen Reaktionen auf Veränderung zu Leiden führen. Und du siehst, dass du kein Ding bist, das unabhängig von der Erfahrung existiert.

Du siehst, dass jeder diese direkte Erkenntnis erfahren kann, der die gleichen Anstrengungen unternimmt. Es ist nicht das Ergebnis von Denken. Es ist nicht das Ergebnis von Glauben. Es ist nicht der Besitz der Mächtigen. Man kann es nicht verwenden, um etwas oder jemanden zu unterdrücken oder kontrollieren. Zunehmend entwickelst du eine Wertschätzung für alle, die einen solchen Pfad gesucht haben und gegangen sind. Nicht wegen ihrer Weisheit und ihres Verständnisses, sondern wegen ihres Mutes und Anstrengungen, so viel von ihren Konditionierungen und Projektionen losgelassen zu haben. Auf diese Weise taucht eine klare und offene Wertschätzung auf und es öffnet sich ein Tor zu noch tieferer Erkenntnis.

Geschichte 2:

 Ein chinesischer Meister liegt im Sterben. Ein enger Schüler von ihm bekommt Angst, er könne sterben, bevor er ihm die letzten Wahrheiten übermittelt haben würde, kommt zu ihm und fragt: „Meister, bitte sage mir die erste Wahrheit.“

Der alte Mann lächelte und sagte: „Das werde ich, wenn es dafür Zeit ist.“

Die Tage vergingen und die Gesundheit des Meisters verschlechterte sich zunehmend. Wieder kam der Schüler: „Meister, bitte sage mir die erste Wahrheit.“

„Das werde ich“, sagte der Meister, „wenn es dafür Zeit ist“.

Bald zeigten sich die Zeichen, dass der Tod nahe war. Verzweifelt fragte der Schüler ein drittes Mal.

Mit dem letzten Funken Kraft sah der Meister ihn sanft an und blickte mit außergewöhnlicher Klarheit in die Augen des Schülers. Mit einem kaum hörbaren Flüstern sprach er: „Ach, wenn ich dir die erste Wahrheit sage, wird sie zur zweiten.“

Und dann starb er.

Verfasser und Verantwortlich für den Inhalt:
Florian Jacobs, Heilpraktiker (Psychotherapie), GIKK-Psychotherapie (HPG), 90419 Nürnberg
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Florian Jacobs Heilpraktiker Psychotherapie  GIKK-Psychotherapie HPG 90419 Nürnberg Florian Jacobs, Heilpraktiker (Psychotherapie),
GIKK-Psychotherapie (HPG), 90419 Nürnberg
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