Gelernte Hilflosigkeit verlernen
Gelernte Hilflosigkeit verlernen
04.09.2013
Gelernte Hilflosigkeit verlernen
Gespräch I
„Ich kann das nicht tun“ sagte er
„Was hält dich davon ab?“ fragte ich
langes Schweigen
„Weißt du, was und wie du es zu tun hast?“
„Oh, ja“, antwortete er, „aber ich kann es nicht!“
„Kansst du es nicht oder willst du es nicht?“ fragte ich und pushte ihn ein wenig.
Wieder langes Schweigen
„Du verstehst das nicht“, sagte er, „Alles was du sagst, macht Sinn. Ich verstehe, wie ich es tun sollte, aber ich kann es nicht.“
„Was hält dich davon ab?“ fragte ich wieder.
„Eine Menge Sachen. Ich meine, ich wurde erzogen, ein netter Mensch zu sein, weißt du, jemand, der Menschen anständig behandelt, der Leute nicht herumschubst, der Menschen fair behandelt und erwartet, selbst fair behandelt zu werden. Ich kann nicht glauben was passiert ist. Ich fühle mich vollkommen betrogen. Ich fühle mich als Opfer meiner eigenen Naivität. Ich fühle mich hilflos und überfordert. Ja, ich verstehe, was du anregst und intellektuell weiß ich, dass ich das tun kann. Aber im Innern fühle ich mich sehr verwirrt. Ich empfinde mich als aggressiv und brutal wenn ich sage: „Nein, das werde ich nicht akzeptieren und das wird Konsequenzen haben.“ Aber die Alternativen sind furchtbar. Ich will meinen Job nicht aufgeben und umziehen müssen. Anständige Menschen sollten nicht in eine solche Situation kommen. Ich habe das Gefühl, dass ich etwas furchtbar falsch gemacht habe. Aber das habe ich nicht. Oder doch?“
Gespräch II
„Du willst mich veralbern?! Das meinst du doch nicht ernst?!“ fragte sie.
„Doch, ich meine das ernst. Du hast gesagt, du willst klar und präsent sein. Klar und präsent zu sein bedeutet auch, dass du im Rahmen deiner Wahrnehmung dem dienst, was wahr ist.“ Antwortete ich.
„Aber was wird meine Familie denken? Was ist mit meinen Freunden? Mit der Arbeit? Meiner Beziehung? Das wird keiner verstehen.“ Sagte sie.
„Ja, es wird Konsequenzen haben. Du musst eine Entscheidung treffen. Willst du weiter ein Leben leben, das von anderen definiert wird oder willst du gemäß dem handeln, was du für wahr und richtig hältst?“
Beide Dialoge sind fiktiv. Ich habe sie mir für diesen Artikel ausgedacht. Aber ich hatte viele sehr ähnliche Gespräche mit Menschen, die zu mir kamen und auch mit mir selbst.
Das gemeinsame Thema hier ist ein internes Muster, das wir „gelernte Hilflosigkeit“ nennen können. Gelernte Hilflosigkeit entsteht, wenn wir in einem System eingeschlossen sind. Dieses System kann eine Familie, eine Gemeinschaft, eine Kultur, eine Tradition, ein Beruf, eine Institution, eine Beziehung usw. sein.
Anfangs entwickelt sich ein System zu einem bestimmten Zweck. Aber wenn das System sich entwickelt tendiert es zunehmend dazu, sich um bestimmte Annahmen und Glaubenssätze, Perspektiven, Aktivitäten und Tabus herum zu organisieren, die ausschließlich dem Fortbestand des Systems selbst dienen. Das Gewahrsein des ursprünglichen Zwecks schwindet und das System beginnt sich zu verselbstständigen und auf Autopilot zu laufen. Es versteinert.
Die Annahmen und Glaubenssätze, Perspektiven, Aktivitäten und Tabus verändern sich auf subtile (und manchmal nicht so subtile) Weise, um sich selbst zu erhalten. Und diese Annahmen und Glaubenssätze, Perspektiven, Aktivitäten und Tabus werden den Menschen, die dieses System tragen, antrainiert und einkonditioniert.
Zum Beispiel ist der Zweck einer Familie, eine nährende Umgebung zu schaffen, die die Kinder vor den Unbilden des Lebens abschirmt, während sie ihre physischen, emotionalen und intellektuellen Fähigkeiten ausbilden, bis sie selbstständig agieren können. Liebe, Mitgefühl, (Mit-)Freude und Gleichmut sind entscheidend. Liebe, so dass sich das Kind willkommen und angenommen fühlt und sich für die Welt öffnen kann. Mitgefühl, damit das Kind lernt, Schmerz und Leid nicht zu fürchten. Freude, damit das Kind Zuversicht in seine oder ihre Fertigkeiten und Fähigkeiten fühlt. Gleichmut, damit das Kind seine eigenen Erfahrungen mit Erfolg und Scheitern machen kann und die Freiheit hat, zu gehen, wenn er oder sie die Reife dazu erlangt hat.
Allzu oft werden einer oder mehrere dieser Aspekte von dem Familiensystem verzerrt. Anstelle von Liebe erfährt das Kind eine Forderung nach Zuneigung. Anstelle von Mitgefühl eine Furcht vor Schmerz und Leid. Anstelle von Freude werden seine Fähigkeiten und Entscheidungen in Frage gestellt und lächerlich gemacht. An Stelle von Gleichmut erfährt es Werturteile.
Wann immer das Kind sagt: „Wartet mal, das fühlt sich nicht richtig an. Hier läuft etwas schief.“ Bekommt es die Macht des Familiensystems zu spüren:
„So kannst du nicht mit deiner Mutter reden! Hast du keinen Respekt? Liebst du deine Mutter nicht? Schäm dich!“
„Tu das nicht. Das könnte gefährlich sein. Du könntest dich verletzen.“
„Du denkst, du wärst was besonderes, oder? Lass mich dir mal ein zwei Dinge erklären und dir zeigen, wie man es richtig macht.“
„Wie schlecht musst du sein, so etwas auch nur zu denken?“
Ähnliche Konditionierungsmechanismen operieren in den meisten Systemen. Das System verwendet Scham, Schuld und den Entzug von Aufmerksamkeit und Zuneigung, um ein Gefühl von existentieller Bedrohung, von Todesangst zu installieren. Gleichzeitig präsentiert das System eine Sicht, in der alle Macht im System liegt, nicht in den Menschen. Diese Kombination erschafft eine existentielle Abhängigkeit von dem System. Das System sagt uns, ohne es würden wir nicht überleben.
Allmählich wird das System internalisiert und die Menschen identifizieren sich zunehmend mit dem System - Er oder sie sieht sich selbst zunehmend so, wie das System ihn bzw. sie sieht. Unser Gefühl, wer oder was wir sind, wird von dem System definiert.
(Wir sehen diese Tendenz deutlich bei Berufen – „Ich bin Arzt, also tue ich x, y, z“ oder „Ich bin Anwalt, also tue ich das und das und denke so und so“.)
Eines der primären Charakteristika von gelernter Hilflosigkeit ist, dass sich die Person in Bezug auf das System als passiv erlebt. Diese Passivität ist allerdings nur ein Teil der Geschichte.
Wann immer wir Missbrauch erfahren, physisch, emotional oder spirituell, werden in uns zwei Muster angelegt: Opfer und Täter. Unsere Erfahrung, missbraucht zu werden legt die Basis für die Opferrolle. Unsere Erfahrung, wie man andere missbrauchen kann, legt die Basis für die Täterrolle. Beide lassen gelernte Hilflosigkeit entstehen, wenn sie sich auch auf unterschiedliche Weise manifestiert. Im Falle des Täters könnte sie sich zeigen als: „Da ist es einfach über mich gekommen. Ich wollte das gar nicht sagen oder tun.“ Im Falle des Opfers zeigt könnte sie sich zeigen als: „Ich weiß auch nicht, warum ich mir das immer wieder gefallen lasse und immer wieder in die gleiche Situation komme. Ich kann wirklich nichts dagegen tun und anfangs sieht es immer gut aus. Aber dann ist es doch wieder das Gleiche.“ In beiden Fällen drücken wir unsere Passivität gegenüber den Mustern, die in uns operieren aus. In beiden Fällen drücken wir unsere Hilflosigkeit aus.
Können wir diese gelernte Hilflosigkeit verlernen? Das ist die große Frage, oder?
Meine Antwort lautet „ja“. Aber es wird uns etwas kosten. Der Preis ist hoch.
Wir können diese gelernte Hilflosigkeit nur verlernen, wenn wir die innere (und zum Teil auch die äußere) Verbindung zu dem System durchtrennen, das diese Muster generiert.
Dazu muss unsere Motivation stark und klar sein. Wir müssen wirklich bereit sein, unsere eigenen Fragen über das Leben anzuhören und damit in Resonanz treten. Wir müssen bereit sein, in jedem Moment den Schritt ins Unbekannte, ins Niemandsland zu wagen. Wir müssen wirklich wünschen, unser eigenes Leben zu leben und nicht eines, das uns von Familie, Gesellschaft, Kultur, Beruf und Tradition vorgegeben wird. Dazu müssen wir bereit sein, uns unseren Ängsten und all den Dingen, die wir sonst zu vermeiden suchen, zu stellen. Letztendlich müssen wir unsere Sorge um unser Überleben, die Erfüllung unserer emotionalen Bedürfnisse und unsere Identität aufgeben. Mit all diesem wird uns das System bedrohen, umschmeicheln usw.
Wir müssen bereit sein, das Leben in dieser Gesellschaft (zumindest innerlich) zu verlassen. Wir müssen bereit sein, Schmerz zu erfahren, uns nur auf unsere unmittelbare Erfahrung zu verlassen, all unsere Annahmen aufzugeben, gemäß dem handeln, was wir für richtig halten und anzunehmen, was dabei passiert. Wir müssen die (Illusion von) Kontrolle aufgeben. Wir müssen uns danach sehnen, zu erfahren, was ist, ohne uns auf jemanden oder etwas zu verlassen, um unsere Existenz zu bestätigen.
Wie können wir die gelernte Hilflosigkeit verlernen?
Traditionell wird es in drei Schritten beschrieben. Eine Formulierung ist:
„Wisse was zu tun ist, entwickle die Skills, entferne die Blockaden“
Wir studieren um zu verstehen, was involviert ist. Dann machen wir uns eine Disziplin zu eigen, um die notwendigen Skills zu erlernen, bis sie Teil von uns sind. Dann arbeiten wir mit den internen Blockaden, die uns davon abhalten, unser Wissen und unsere Fähigkeiten anzuwenden.
Eine alternative Formulierung aus dem Buddhismus sind die „Drei schwierigen Dinge“:
„Erkenne das Problem. Entwickle eine Übung. Bleibe so lange dabei, bis das Problem nicht mehr entsteht.“
Der erste schwierige Schritt liegt darin, anzuerkennen, dass da ein Problem ist. Dann entwickeln wir Übungen, um Achtsamkeit auf das Problem, seinen Kontext und den Mustern, die darunter liegen, zu bringen. Schließlich setzen wir die Übung trotz aller Widerstände und Hindernisse fort, bis das Problem nicht mehr auftaucht.
Das sind harte und schwierige Anweisungen. Wenn wir ihnen folgen, wird sich die ganze macht des Systems, das wir internalisiert haben, gegen uns wenden. Märchen sind voll von Geschichten, in denen der junge Prinz oder die Prinzessin in ein Schloss gehen, dass von Drachen, Dämonen, Zauberern, Tyrannen und Hexen bewacht wird und diese versehentlich aufwecken, indem sie die falsche Frage stellen oder gegen eine Regel verstoßen und sich dann den Weg freikämpfen müssen. Das sind kompromisslose Geschichten, in denen der Prinz oder die Prinzessin Mut, Geschick und Gewahrsein beweisen müssen, um die Erscheinungen zu töten und die scheinbar übermächtigen Kräfte überwinden müssen. Und es hat immer einen Preis.
Wenn die interne Identifikation stirbt, fühlen wir uns, als sei ein Teil von uns selbst gestorben.
Und so ist es.
Wenn wir die Ansprüche des Systems verletzen, fühlen wir uns gewalttätig.
Und wir sind es.
Wenn das System in uns stirbt, fühlen wir uns, als hätten wir gemordet.
Und wir haben es.
Wir treten aus der Konsensrealität heraus.
Wir hören auf, in der Welt nach einer Bestätigung unserer Existenz zu suchen.
Stattdessen verlassen wir uns auf unsere direkte Erfahrung von dem, was auftaucht und handeln gemäß unserer Beobachtung der Erfordernisse der Situation. Wir können wählen, in einer Institution zu arbeiten, einer Tradition zu folgen, einen Beruf zu ergreifen. Aber unsere Wahl ist bewusst und wir entscheiden uns dazu im Wissen um die Verantwortlichkeiten und Verpflichtungen, die damit einhergehen.
Verfasser und Verantwortlich für den Inhalt:
Florian Jacobs, Heilpraktiker (Psychotherapie),
GIKK-Psychotherapie (HPG), 90419 Nürnberg
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