Volksleiden Nummer 1: Chronische Verspannungen

Volksleiden Nummer 1: Chronische Verspannungen

Schmerzhafte chronische Muskelverspannungen, vor allem im Schulter-Nacken-Rücken-Bereich sind so verbreitet, dass schon von einem Volksleiden gesprochen werden kann.

Angebliche Ursachen

Wenn sie in Presse oder TV erwähnt werden, dann meistens mit dem Hinweis auf die Ursache "Fehlhaltungen und Fehlbelastungen", also zuviel und falsches Sitzen, zuwenig Bewegung, angewöhnte "falsche" Körperhaltungen. Dem entsprechen auch die empfohlenen Maßnahmen: Anders sitzen, mehr Bewegung, Bewegungstraining wie zum Beispiel Rückentraining oder in schlimmen Fällen Physiotherapie, Krankengymnastik, medizinische Massagen. Meiner Erfahrung nach trifft weder diese Ursachenvermutung noch der Maßnahmenkatalog den Kern der Sache, denn wäre es so, wären doch längst die meisten befreit von Verspannungen: Die eine oder andere Maßnahme hat wohl fast jeder schon einmal ausprobiert.

Seelische Belastungen verschlimmern die Verspannungen

Die meisten Betroffenen berichten, dass die Verspannungen sich unter Stress und zwar vor allem seelischem Stress, deutlich verschlimmern: Zeitdruck, Überforderung, die Angst vor Fehlern, Konflikte in Partnerschaft, Familie oder am Arbeitsplatz. Das bringt uns eher auf die richtige Spur: Aus der praktisch angewendeten Körperpsychotherapie wurden folgende Erkenntnisse empirisch gewonnen, also durch die praktische Arbeit mit Menschen, die dem nachgeht, was tatsächlich (dauerhaft) verbessert unter dem "Versuch und Irrtum" - Prinzip.

Verspannungen sind nicht auf Gewohnheiten zurückzuführen

Diesen Erkenntnissen zufolge sind chronische schmerzhafte Verspannungen nicht auf "Gewohnheiten" zurückzuführen (kein Organismus ist so unklug, ohne wirklich zwingenden Grund schmerzhafte und gelenkschädigende Gewohnheiten zu etablieren und aufrecht zu erhalten).

Die Instinktebene

Sie sind auch nicht seelisch bedingt, im Sinne der Gefühlsebene. Die Ursachen von "hartnäckigen" Verspannungen (wie bildhaft dieser Begriff ist!) sitzen noch eine "Etage" tiefer: Auf der Ebene unserer Instinkte, Reflexe und Bewegungsimpulse. Sie werden vom Stammhirn und vom Bauchhirn dirigiert, die ganz autonom, "un-willkürlich", also nicht dem bewussten Willen folgend, agieren und reagieren. Sie können unterdrückt werden oder gesteuert werden (mit viel Übung, und zwar in Form einer Zusammenarbeit), nicht jedoch kontrolliert werden wie zum Beispiel ein ferngesteuertes Modellauto. Da diese Ebene noch dazu meistens vom Bewusstsein nicht oder kaum wahrgenommen wird, können Maßnahmen, die sich nur an den Willen richten, nicht sehr wirkungsvoll sein.

So entstehen Verspannungen

Die Entstehung von Verspannungen können wir uns etwa so vorstellen: Kleine Kinder sind Bündel aus unwillkürlichen Bewegungsimpulsen. Behagen und Unbehagen, Impulse, Bewegungen, Lust und Unlust, Angst, Empörung, Genuss, Aufsuchen und Meiden werden empfunden, gefühlt und motorisch, mimisch und mit der Stimme ausgedrückt, und zwar simultan, das heißt, zwischen Empfindung, Impuls und Ausdruck vergeht keine Zeit. Verläuft die Entwicklung ungestört, so lernt der Gesamtorganismus in den ersten etwa 10 (!) Lebensjahren, mit diesem komplexen Geschehen umzugehen, es zu steuern und beispielsweise nicht mehr jeden Impuls und jedes Gefühl ungebremst auszudrücken. Der Wille, das Bewusstsein lernt, das unwillkürliche Geschehen wahrzunehmen und situationsangemessen auszudrücken. So ungestört kann die Entwicklung jedoch nur bei wenigen Menschen verlaufen. Spätestens ab dem sechsten Lebensjahr und der Einschulung (also unserer Annahme entsprechend vier Jahre zu früh!) müssen Kinder ihre Bewegungsimpulse kontrollieren lernen, müssen sie Unlust, Angst und Meiden unterdrücken und sich zu Aktivitäten zwingen, die ihnen nicht angenehm sind. Und die meisten Menschen haben auch schon weit vorher radikale Begrenzungen ihrer Selbstregulation erfahren.

Jeder starke Bewegungsimpuls geht mit einem starken Empfinden und einem intensiven Gefühl einher. Sie entstehen spontan entweder aus sich heraus oder als Reaktion auf eine Situation.

Unfall verhindert - Impuls verhindert!

Nehmen wir einen knapp Dreijährigen, der seinem Ball hinterher laufen will (also einen starken Bewegungsimpuls zu etwas hin hat) und von seinem Vater festgehalten wird, weil er sonst auf die Straße laufen würde (wobei ein Kind in dem Alter die Gefahren natürlich noch nicht überblickt). Der Impuls wandelt sich sofort in einen Befreiungsreflex, der Bub will um sich schlagen, treten, sich winden und schreien, um dann, befreit, dem ursprünglichen Impuls folgen zu können, nämlich dem Ball hinterher zu laufen.

Der Vater hat nun zwei Möglichkeiten: Er hält seinen Jungen einfach gut fest, bis die Erregungskurve abklingt (bis also die Impulse ausgedrückt wurden), und erklärt ihm dann in altersgerechter Sprache, warum er ihn festgehalten hat. Das wäre eine entwicklungsgerechte Reaktion.

Meistens hat aber ein Vater (wir können uns natürlich genauso gut eine Mutter vorstellen) selbst so einen Schreck, dass er zusätzlich seinen eigenen Stress ausagiert, durch Schimpfen und Schreien; womöglich reißt er den Jungen noch am Arm oder schüttelt ihn. Schlägt der Bub nun auch noch schreiend zurück, weil er nicht nur empört über die Verhinderung seines Impulses ist, sondern auch noch Angst bekommt vor der von ihm als feindselig erlebten Reaktion seines Vaters, fühlt dieser sich schnell zu einem Machtkampf herausgefordert und verlangt Unterwerfung von seinem Kind.

Alltägliche Szenen, wie sie überall und fast zu jeder Tageszeit zu beobachten sind. Niemand meint es böse, keiner will etwas Schlechtes: Der Junge will seinem Ball hinterher laufen; der Vater will sein Kind vor einem Verkehrsunfall beschützen, und zwar möglichst mit einer Lektion verbunden, die zukünftige Unfälle unwahrscheinlicher macht. Und doch sind die Folgen fatal: Der Bub lernt, dass seine noch ungesteuerten Impulse ihm die Feindschaft seines Vaters einbringen; er lernt, seinen autonomen Prozessen zu misstrauen. Also wird er sie in Zukunft unterdrücken, da er sie noch nicht steuern kann. Eben diese Unterdrückung führt jedoch leider auch dazu, dass er die Steuerung nicht lernen kann, sondern bei der Unterdrückung bleibt.

Aus Angst vor den Reaktionen seines Vaters unterdrückt er zukünftig Schlag,- Tret- und Schreiimpulse. (Wobei eine einzelne Situation dieser Art dafür nicht ausreicht; es sind die wiederholten Vorkommnisse, die den lebendigen Fluss der Impulse nach und nach stoppen.)

Das heißt, dass sein autonomes System jeweils zwei sich gegenseitig hemmende Impulse gleichzeitig verwalten muss: Den Schlagimpuls und den Angst-/Meideimpuls.

Von außen ist davon nicht viel zu sehen (außer einer "Haltungsgewohnheit", zum Beispiel hochgezogenen Schultern), jedoch die beteiligten Muskeln, bei Schlagimpulsen sind es vor allem die Schultermuskeln, sind dauerhaft angespannt, weil sich keiner der Impulse entladen kann.

Schreien und mit dem Kopf stoßen wird durch Anspannung von Nacken- und Halsmuskulatur unterdrückt, Treten und Laufen durch Anspannung der Lendenwirbelsäule.

Kein Wunder, dass schon bei vielen Kindern vielfältige, unterschiedlich stark ausgeprägte Verwindungen der Wirbelsäule zu beobachten sind!

Um die eigenen Impulse möglichst gar nicht mehr wahrzunehmen, wird außerdem reflexartig die Atmung kontrolliert und abgeflacht. Das geschieht mit Hilfe der sogenannten Atemhilfsmuskulatur, also Zwischenrippenmuskeln, Bauchmuskeln und den langen Rückenstreckern.

Damit ist auch der mittlere Rückenbereich chronisch verspannt, da er die autonome Atemregulation mit verhindert.

Wir strengen uns mächtig an

Übrigens kostet es eine enorme ständige Anstrengung, so ein Impuls unterdrückendes System aufrecht zu erhalten. Sie verbraucht permament Kraft, die dann woanders in der Lebensführung zwangsläufig fehlt. So erklären sich Gefühle von Überforderung, Resignation, ja, sogar bestimmte Depressionsformen können so mit verursacht werden (wobei meistens noch andere Faktoren hinzukommen).

Das Ziel

Leider sind die ursprünglichen Impulse ja durch starke Angstimpulse blockiert. Beide sind meistens verdrängt worden und damit nicht ohne weiteres zugänglich. Verdrängung ist eine sehr kluge Maßnahme des Organismus, der unlösbare Situationen einfach zur Seite stellt und dadurch immerhin mit dem Rest der Kraft weitermachen kann.

In einer guten professionellen Körperpsychotherapie wird heutzutage parallel zum Impuls-System auch das "Wächtersystem" erforscht, denn mit dem forcierenden Vorgehen, das von manchen therapeutischen Bewegungen in den Neunzehnhundert-Siebzigern und -Achtzigern favorisiert wurde, gab es überwiegend keine guten Langzeiterfahrungen: Damals wurde die Impulsabteilung so lange provoziert, bis sie die Hemmungen durchbrach und sich in dramatischem Ausdruck entladen konnte. Werden aber die hemmenden Kräfte nicht mit berücksichtigt, bekommen sie oft im Laufe der Zeit wieder die Oberhand.

Das Ziel ist natürlich, die ausdrucksverhindernden Kräfte zu verstehen und zur Mitarbeit zu bewegen, damit die autonome Impuls-Abteilung wieder wahrgenommen, aber auch ihre Steuerung nachgelernt werden kann.

Dadurch werden wir wieder komplett, sind nicht nur ein Kopf auf Stelzen oder werden, wenn die aufgestaute Ladung nicht mehr unterdrückt werden kann, "kopflos", sondern werden "Ross und Reiter" und haben unsere angeborene Lebenskraft wieder zur Verfügung.

Das Lebensgrundgefühl wird leichter und erfüllter, die Fähigkeit zu empfinden und zu fühlen wird intensiviert.

Was kann man selbst tun?

Einerseits können Sie natürlich durch die Lektüre von guten Fachbüchern Ihr Verständnis für diese komplexen Zusammenhänge vertiefen (Buchempfehlungen finden Sie unten am Ende des Artikels). In manchen davon sind auch gute Übungen zur Selbstwahrnehmung aufgeführt. Um das schmerzhafte Übel der Verspannungen jedoch von der Wurzel her zu lösen, benötigen Sie wenigstens für den Anfang eine fachkundige Begleitung, denn allein werden Ihre inneren Wächter Sie nicht recht weiter kommen lassen (Dies ist ein Erfahrungswert. Ausnahmen sind natürlich immer möglich).

Um Ihre Selbstwahrnehmung und die Fähigkeit zur Selbstfürsorge zu schulen, können Sie jedoch eine Achtsamkeitsübung auch allein durchführen, und zwar so oft und ausführlich, wie Sie möchten:

Versuchen Sie wahrzunehmen, wo Sie gerade angespannt sind und suchen Sie Möglichkeiten zur unterstützenden Entlastung.

Beispiele:

  • Wenn Sie im Bett auf der Seite liegen, kann es sein, dass Sie mit dem Kopf auf dem gewölbten Kissen liegen. Sie müssen also Ihren Nacken ständig angespannt halten, damit der Kopf nicht nach hinten wegrutscht. Formen Sie Ihr Kopfkissen anders oder legen Sie noch ein Kissen drunter, aber hinten, so dass die Wölbung Ihres Hinterkopfes schön gehalten wird. Genießen Sie diese Empfindung ganz bewusst: Mein Kopf wird gehalten, ich kann mich ganz entspannen.
  • Wenn Sie auf dem Bauch liegen, müssen Sie Ihre Füße entweder an der Matratze entlang strecken oder sie seitlich abknicken. Beides verursacht unangenehme Spannungen. Rutschen Sie soweit hinunter, dass Ihre Füße am Matratzenrand herunter hängen können (natürlich können Sie vorher Ihre Decke darum wickeln) und genießen Sie ganz bewusst, wie Sie nun im Bein- und Fußbereich wirklich entspannt liegen können.
  • Sitzen Sie viel im Schneidersitz oder legen ein Bein angewinkelt hoch? Legen Sie sich doch mal Kissen unter die Knie, bis Sie in der gewünschten Haltung sind, aber ohne sich selbst dafür anstrengen zu müssen!
  • Das gleiche gilt für die Arme und Ellbogen: Entlasten Sie Schultern und Nacken, indem Sie immer die Bereiche, die sich sonst anspannen müssten, mit Kissen oder gefalteten Decken abstützen. Auch Rücken, Nacken und Hinterkopf können Sie so ganz bewusst halten und tragen lassen.

Bei dieser Übung geht es vor allem darum, dass Sie wieder bemerken lernen, wann und wo genau Sie sich anstrengen, und wie Sie das normalerweise dulden, weil es Ihnen so selbstverständlich ist, dass Sie es gar nicht bemerken.

Nehmen Sie Ihre körperliche Bequemlichkeit zur Abwechslung einfach mal sehr wichtig und werden Sie ganz penibel damit: Wie genau, in welchem Winkel und in welcher Höhe tut die Unterstützung und der Halt gut? Experimentieren Sie damit und finden Sie immer noch eine Möglichkeit, sich richtig bequem und entspannt einzurichten, auch wenn es nur für wenige Augenblicke ist.

Wenn Sie diese Achtsamkeitsübung einige Zeit praktizieren, werden Sie merken, dass Sie auch sonst anspruchsvoller werden: Sie merken genauer, was Ihnen gefällt und was nicht, was Sie wollen und was eher nicht und was Ihnen gut tut und was Ihnen schadet.

Nun könnten Sie noch lernen, sich selbst freundlich, aber bestimmt zu vertreten.

Aber das ist ein anderes Kapitel und ein anderer Artikel.

Hier erfahren Sie mehr

Mehr zu solchen psychologischen Zusammenhängen erfahren Sie im

Grundlagenjahr Praktische Psychologie,

das am 22.09.2010 wieder im IN HOPE, München startet.

Buchempfehlungen

  • Körper und Gefühl in der Psychotherapie - Basisübungen (Leben Lernen 120) von Gudrun Görlitz
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Weitere Informationen:
http://www.psycho-holistik.de/grundlagenjahr.html

Verfasser und Verantwortlich für den Inhalt:
Anne Lindenberg, Praxis und Ausbildungsinstitut für Psycho-Holistik, IN HOPE - Praxis und Ausbildungsinstitut für Psycho-Holistik, 81379 München
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IN HOPE - Praxis und Ausbildungsinstitut für Psycho-Holistik, 81379 München
http://www.therapeutenfinder.com/therapeuten/in-hope-muenchen.html

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