Sexuelle Übergriffe mit Hilfe von Arbeit am Tonfeld bewältigen

31.07.2014

Im Greifen sich begreifen

Im wörtlichen wie im übertragenen Sinn ist die emotionale, geistige und leiblich-seelische Entwicklung des Menschen ganz eng mit seinen Händen und dem Begreifen verbunden. Tonfeldtherapeuten sprechen von "Haptik" (alles, was mit Brührung zu tun hat), auch von einem Handlungsdialog und von Verwirklichung in der Beziehung. Sie arbeiten nach dem neuesten Stand der Hirnforschung, den der Neurobiologe Dr. Gerald Hüther so zusammenfasst: "Nur Erfahrungen, die - im Positiven, wie im Negativen - unter die Haut gehen, hinterlassen Spuren im Gehirn." Arbeit am Tonfeld vermag die negativen Spuren durch positive, korrigierende Beziehungserfahrungen zu überschreiben.

Der Tastsinn: unser wichtigster Sensor

Aus einem Interview mit Dr. Martin Grunwald, Haptikforscher an der Uni Leipzig:

Frage: "Wir können ohne Augen leben, aber nicht ohne Hautkontakt?"

Antwort: "Das ist so. Der Tastsinn ist unser wichtigster Sensor überhaupt. Festmachen lässt sich diese Aussage schon an der Tatsache, dass kein Mensch ohne Tastsinn zur Welt kommt, wohl aber taub und blind. Der Mangel an Berührung hat noch viel gravierendere Konsequenzen, als der Verlust eines anderen Sinnesorgans. Viele Erwachsene versuchen, ihre Defizite in diesem Bereich über Sprache und Kognition, also Denken, zu kompensieren. Aber das geht nicht."

Der Tastsinn ist die Basis unserer Selbst- und Welterfahrung. Das Vermögen, Berührungsreize zu verarbeiten und die Umwelt haptisch zu erkunden, ist ein Merkmal alles Lebendigen. Selbst der Einzeller ist ein Haptiker. Die Haut des Menschen ist sein größtes Sinnesorgan, durch das er mit der Umwelt und der Innenwlt in Kontakt tritt und mit der er sich nach außen und nach innen abgrenzt. Dieser Aspekt, mit sich oder anderen in Kontakt zu treten, wird auch in Sprachbildern deutlich: jemand hat eine dünne Haut, oder er ist eher dickfellig. Einerseits geht uns vieles unter die Haut, andererseits kann manches abprallen, wenn wir uns unberührbar geben.

Die wesentliche Schutzfunktion der Haut ist hiermit beschrieben. Darüber hinaus ist sie das Organ, mit dem Menschen Beziehungen, Nähe und Zärtlichkeit wahrnehmen und vermitteln. Ein Gesichtspunkt dabei ist das Wahrnehmen von Temperatur: im unmittelbaren Kontakt, aber auch Wärme und Kälte im übertragenen Sinn, in der erlebten Qualität einer Beziehung, ob mit sich selbst oder Anderen."

So kommt es, dass dem Tastsinn eine besondere Bedeutung zukommt, wenn jemand an den seelischen Folgen sexueller Gewalt leidet. Das Überschreiten der Hautgrenze, das die Persönlichkeitsgrenze und Würde überschreitet und so zu seelischen Verletzungen führt, wird nunmehr im "Vernarben" zum sinnvollen Ansatzpunkt für gezielte Heilungsprozesse. Berührung und Bewegung beinhalten die größten Chancen auf neue, gesunde Möglichkeiten.

Wir profitieren doppelt, wenn wir Therapie und Beratung mit der regenerierenden Wirkung von Berührung und Bewegung verbinden.