Der unsichtbare Weg in die Essstörung
Der unsichtbare Weg in die Essstörung
20.10.2014
Ein Fallbeispiel
Die junge Frau sitzt unruhig in einem Sessel. Sie könnte es sich bequem machen, sich hineinlümmeln, sich richtig entspannen. Der Raum lädt geradezu dazu ein. Es duftet, das Licht strahlt Gemütlichkeit aus, doch sie nutzt nur gerade so viel Fläche wie nötig ist, um nicht den Kontakt zu dem Sitzmöbel zu verlieren. Angespannt hockt sie, an die Lehne gedrängt, vor ihrer Therapeutin. Ganz tief in sich weiß sie, dass es richtig ist jetzt dort zu sein. Trotzdem ist sie verängstig, trotzig, stark und schwach zugleich.
Warum sie da ist? Weil alle es so wollten. Weil alle meinten, es wäre besser. Weil sie sonst keine Ruhe gegeben hätten. Und – weil sie weiß, dass es richtig ist. Sie merkt, dass es ihr nicht gut geht. Aber sie hat alles „unter Kontrolle“, da ist sie sich sicher! Und genau diese Bestätigung wird sie hier bekommen! Das jedenfalls denkt sie.
Wie es dazu kam, dass die immer eher gut beleibte Frau plötzlich und schnell so viel abgenommen hat? Nun, das war ein Zufall. Sie habe Liebeskummer gehabt. Keine große Sache, aber sie war eben traurig und wie es vielen so geht, habe sie einfach eine Weile vor Liebesschmerz nicht essen können. Früher, so erzählt sie, habe sie dann eher erst recht viel in sich hineingestopft. Aber diesmal war es irgendwie anders.
Der Kummer verging langsam und mit ihm die Pfunde und das war eine wunderbare Nebenwirkung. Und es war so einfach.
5 Kilo waren innerhalb einer Woche geschafft ohne, dass sie sich anstrengen musste.
Das tat der Kummer noch für sie. Die nächsten Kilo ließen etwas auf sich warten. Irgendwann waren es 7 Kilo, die die Waage weniger anzeigten und – was gerade mit dem langsam schwindenden Liebeskummer besonders erfreulich war: Es fiel auf! Sie wurde angesprochen, wie gut sie doch aussehen würde. Sie traute sich, Röcke zu tragen, sie betonte sich und ihren Körper und mit der Zeit wurde ihr Gefühl immer besser. Ob sie denn keinen Hunger gehabt hätte, fragt die Therapeutin. Nein. Naja, manchmal schon etwas und dann habe sie auch eine Kleinigkeit gegessen, aber dann wären am nächsten Morgen gleich 500g mehr drauf gewesen und das war es ihr nicht wert. Immer öfter ertappte sie sich dabei, sich das Essen regelrecht zu verbieten. Oft ging es den ganzen Tag über gut. Sie war abgelenkt, musste zur Arbeit, trank lieber Wasser als einen Apfel zu essen… Eines Abends, so erzählt sie, habe sie es nicht mehr ausgehalten. Sie hatte Hunger. Und wie! Also fing sie an zu essen. Zuerst ein Vollkornbrot. Das ist schließlich gesund und kann nicht schaden. Und am nächsten Tag, so war sie sich sicher, würde sie einfach gar nichts essen und sogar auf den heißgeliebten Zucker in ihrem Tee verzichten. Tja, das Brot war schnell verschlungen, der Hunger blieb. Also aß sie einen Apfel. Schließlich hat ein Apfel nicht viele Kalorien und die Ballaststoffe des Brotes würden dafür sorgen, dass alles schnell seinen natürlichen Weg nach draußen findet. Nach dem Apfel wurde es noch schlimmer. Und jetzt war es sowieso egal. Sie hatte ja schon versagt. Also stopfte Sie Schokolade und Chips hinterher. Doch kaum war alles aufgegessen meldeten sich Scham und Angst. Was zum Henker hatte sie getan? Sie hatte gerade in nur 10 Minuten die ganze Arbeit der letzten Tage zerstört. Es blieb also nur eine Möglichkeit – es musste raus! Jetzt und schnell und alles!
Nachdem sie sich übergeben hatte stellte sie sich sofort auf die Waage.
Sie wusste grammgenau, wieviel sie vor diesem „Fehler“ gewogen hatte.
Und was war das? Ihre Augen leuchten während sie davon erzählt. Die Waage zeigte sogar 100 Gramm weniger an als vorher! Ein tolles Gefühl! Ein mieses Gefühl! Sie erzählt, dass sie sich gefreut und geschämt hat. Es fällt ihr schwer das in Worte zu fassen.
Ab diesem Tag war ihr klar: sie musste sich besser unter Kontrolle haben. Neue Strategien entwickeln. Denn mit dem Sinken des Gewichtes stieg das Misstrauen um sie herum. Ob das nicht bald mal genug wäre mit dem Abnehmen, wurde sie gefragt. Ein neues Gefühl mischte sich unter die schon vorhandenen. Bisher war sie stolz auf sich, erzählt sie. Stolz, sich so gut kontrollieren zu können. Stolz zu wissen, dass sie doch bedenkenlos einen Apfel am Tag oder eine andere Kleinigkeit essen zu können, ohne zuzunehmen. Stolz, ganze 4 Kleidergrößen „geschrumpft“ zu sein. Dass sie blass war, ungesund und schwach aussah, wusste sie nicht. Das gab ihr Spiegel ihr nicht wieder. Sie schämte sich aber auch. Weil bisher noch viele Leute sie lobten, wie diszipliniert sie sei. Sie erzählte, dass sie das aus einem neuen Gesundheitsbewusst heraus geschafft hätte. Dass sie wüsste, wie wichtig die richtige Ernährung wäre. Hätte sie sagen sollen, dass sie bewusst das Essen ein auf absolutes Minimum reduziert hat? Sie blickt zu ihrer Therapeutin auf „die hätten mich doch für krank gehalten“.
Das neue Gefühl das in ihr aufkam war das Gefühl, beobachtet zu werden. Immer öfter wurde beäugt, was sie aß. Und das war nicht viel. Also begann sie sich etwas auszudenken. Und das war gar nicht so leicht. Die Ausreden wie „ich habe schon in der Stadt etwas gegessen“ oder „ich habe mir den Magen verdorben“ konnte sie schließlich nicht immer bringen. Aber es war ihr Leben und sie wollte sich nicht vorschreiben lassen, was sie zu tun hatte. Also aß sie wenn es sich nicht vermeiden lies und andere zuschauten. Und dann folgte eben der Gang zur Toilette um sich der ungeliebten Nahrung zu entledigen. Sie log nicht gern, aber es musste eben sein.
Während die junge Frau davon erzählt ist ihr Blick manchmal traurig. Manchmal lässt sich Wut erkennen. Und auch Stolz. Denn, und das betont sie immer wieder, schließlich habe sie alles unter Kontrolle. Sie wisse ganz genau, wieviel Kalorien in welchen Lebensmitteln stecken. Sie kenne auch ihren BMI bis auf die dritte Stelle hinterm Komma und sie hat sich erkundigt, wie lange ein Mensch ohne Nahrung überleben kann. Wieder schaut sie auf. „Es gibt also keinen Grund zur Sorge!“
Einige Sitzungen später weiß sie, dass es ihn doch gibt. Nicht, dass ihr Gewicht lebensbedrohlich gesunken war. Nein. So weit ist es zum Glück nicht gekommen. Sie hatte das verloren, worauf sie immer so stolz war. Die Kontrolle.
Die Kontrolle die ihr in ihrem Leben fehlte projektzierte sie auf ihren Körper. Das war das Einzige, was sie noch kontrollieren konnte, nämlich was, wieviel und wann sie aß. Und jetzt, eine ganze Zeit später, kann sie sich dem stellen. Mit der Hilfe ihrer Therapeutin. Sie kann aufarbeiten was dazu führte. Sie erhält Hilfe und Unterstützung. Schlank ist sie noch immer und auch die Kalorien zählt sie noch – mal mehr, mal weniger akribisch – doch inzwischen weiß sie um Gefahr. Und sie muss sie nun nicht fürchten.
Wenn Du Dich angesprochen fühlst, wenn Du Dich wiedererkennst, wenn es Dir ähnlich geht – such Dir Hilfe! Es ist kein Versagen um Hilfe zu bitten. Es ist mutig!
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Kommentare zu diesem Artikel
Grit Scheffczyk schrieb am 22.10.14 dazu:
Guten Morgen "ich möchte anonym bleiben", da dieser Bericht nur ein Beispiel ist, kann ich auch nur an Hand dieses Beispiels berichten. Wenn es Ihnen ähnlich geht, sollten Sie sich jemanden suchen, der Ihnen Hilfe bietet. Bei dieser Frau war es so, dass sie die Kontrolle über ihre Gefühlswelt verloren hatte. Als ob ihr der Boden unter den Füßen fehlte und nichts mehr greifbar war. Wir Menschen möchten uns aber kontrollieren können und ihr Esssverhalten war zu diesem Zeitpunkt für sie das einzige, das sie steuern konnte - das glaubte sie zumindest. Es gab ihr eine Form von Sicherheit, dieses selbst zu bestimmen. Ein Irrglaube, der aber in dieser Situation für diese Frau logisch war.
ich möchte anonym bleiben schrieb am 21.10.14 dazu:
Hatte sie nun die Kontrolle über ihr Eßverhalten oder nicht? In dem Artikel steht, sie hätte die Kontrolle verloren. Aber das Essen hat sie doch kontrolliert. Was hat das mit ihrem Leben zu tun? Mir geht es ähnlich und ich würde gern verstehen wie das zusammenhängt.